keine Panik !

Handbuch: 4. Advanced Process Optimizer (APO)

Eine Anlage zu betreiben ist eine komplexe Aufgabe für die Anlagenfahrer, die alle paar Minuten detaillierte Entscheidungen zu treffen haben, wie sie die Sollwerte der Anlage einstellen müssen, um auf gewisse externe Faktoren zu reagieren. Die Anlage soll ja stets die Erwartungen erfüllen, welche die Kunden verlangen, und sie muss auf Wetterveränderungen ebenso reagieren wie auf die Qualität des Rohmaterials, um nur zwei Faktoren zu nennen.

Anlagen werden in unterschiedlichen Schichten gefahren. Ein häufig zu beobachtendes Phänomen ist, dass nach einem Schichtwechsel das neue Schichtteam es besser zu machen glaubt als das alte. Entsprechend werden einige Sollwerte neu eingestellt. Danach benötigt die Anlage – allein schon wegen ihrer schieren Größe – erhebliche Zeit, bis das Equilibrium wiederhergestellt ist. Nach acht Stunden, wenn die nächste Schicht übernimmt, wiederholt sich der Vorgang. Daraus folgt, dass die Anlage nur selten wirklich optimal läuft.

Das gilt nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Überzeugungen der verschiedenen Schichtteams. Es hat auch zu tun mit dem Überangebot an Informationen, da eine Anlage zigtausende von Sensoren haben kann, die menschliche Anlagenfahrer unmöglich alle im Auge behalten können. Deshalb muss jeder Anlagenfahrer aufgrund von Ausbildung und Erfahrung darüber entscheiden, welche wenigen Sensoren er für seine Entscheidung heranzieht. Diese wenigen Sensoren bieten ihm zwar zahlreiche Informationen, aber keineswegs alle.

Automatisierungen und Leitsysteme beschränken sich in der Regel auf lokal eng begrenzte Bereiche und sind eher darauf angelegt, von unten nach oben zu funktionieren. Sie funktionieren am besten bei in sich abgeschlossenen Systemen wie bei einer Turbine, einem Hochofen, einem Boiler u.ä. Eine übergreifende Methodologie für solche Systeme einzurichten ist schwierig und wird selten in Betracht gezogen. Es ist aber gerade beim Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Komponenten einer Anlage, dass das Optimierungspotenzial noch weitgehend ungenutzt bleibt.

Aus diesem Grund sollten wir die ganze Anlage als ein einzelnes komplexes System betrachten. Sie ist ja ein physikalischer Apparat, der den Naturgesetzen gehorcht. Aus diesem Grund kann eine Anlage mit Hilfe von Differentialgleichungen beschrieben werden. Diese sind zwar sehr kompliziert, aber existent. Das Gleichungssystem, mit dessen Hilfe die Anlage beschrieben wird, nennen wird das Modell der Anlage. Weil dieses Modell die Anlage in ihren wichtigsten Eigenschaften repräsentiert, nennt man es oft den digitalen Zwilling der Anlage.

Es gibt zwei grundlegende Arten, ein solches Modell zu erstellen. Bei der ersten Methode geht man Stück-für-Stück vor und erstellt einfache Modelle von Pumpen, Kompressoren und anderen Systemen und fügt diese Modelle zu einem größeren Modell zusammen. Diesen Ansatz nennen wir den First-Principles-Approach. Es erfordert allerdings viel Zeit und Anstrengung seitens der Fachingenieure, um dieses Modell anfänglich zu erstellen und dann über die ganze Laufzeit der Anlage aktuell zu halten.

Die zweite Möglichkeit basiert auf der Basis der vom Leitsystem erhobenen Prozessdaten, die genutzt werden, um aus ihnen ein empirisch-basiertes Modell zu erstellen. Diese Methode kann automatisch durch einen Computer erfolgen, und zwar ohne auf menschliche Expertise angewiesen zu sein. Dieses Modell kann schnell erstellt werden und ist zudem in der Lage, sich selbst jederzeit auf den neuesten Stand zu bringen. Diesen Ansatz nennen wir maschinelles Lernen

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